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Raus aus der virtuellen Welt!

Ein Kind mit VR-Brille und Kopfhörern in der virtuellen Welt, im Raum um das Kind schweben Controller, Computerteile und Spielekonsolen in der Luft.

29.09.2023

Text: Stephanie Arns; Fotos: Adobe Stock/Align, UKE/DZSKJ, Adobe Stock/Alessandro Biascioli, Adobe Stock/Suzi Media

Der Internetkonsum von Kindern und Jugendlichen steigt – und mit ihm die Suchtgefahr. Wer ist davon besonders betroffen und wie kann vorgebeugt werden? Im Interview beantwortet Professor Dr. med. Rainer Thomasius alles, was Eltern und Betroffene wissen sollten. Professor Thomasius ist Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. In unserer neuesten Podcast-Folge erzählt er unter anderem, wie sich die Spielsucht vom harmlosen Hobby unterscheidet, welche Folgen eine Mediensucht haben kann und wie Eltern ihren Kindern helfen können.

Herr Prof. Thomasius, Onlinespiele, soziale Netzwerke und auch Streamingdienste erfreuen sich immer größerer Beliebtheit – und wachsen sich damit zu einem Problem aus.
„Wir beobachten dieses Phänomen am DZSKJ, dem Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) seit vielen Jahren. Insbesondere mit Aufkommen der Smartphones vor rund 15 Jahren hat die Problematik an Fahrt aufgenommen – denn digitale Angebote sind damit überall und jederzeit verfügbar geworden. Begonnen hat es mit den Computerspielen, doch vor allem soziale Medien und auch Streamingdienste spielen eine immer größere Rolle. Dies spiegelt auch unsere Studie vom Sommer 2022 wider, die die Gruppe der 10- bis 17-Jährigen in Deutschland untersucht hat: Mittlerweile 6,7 Prozent nutzen soziale Medien auf eine pathologische Art und Weise, bei den digitalen Spielen sind es 6,3 Prozent. Das sind zusammengenommen über 650.000 Kinder und Jugendliche, die Suchtsymptome zeigen. Insbesondere die Coronapandemie hat dem Vorschub geleistet. Gegenüber dem präpandemischen Wert von 2019 haben sich die Zahlen verdoppelt. Das ist natürlich eine dramatische Entwicklung. Es kommen Betroffene in einem Umfang zu uns, den wir vorher so noch nie erlebt haben.“

Porträt von Rainer Thomasius
Professor Dr. med. Rainer Thomasius ist Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Was macht die virtuellen Welten für Heranwachsende so attraktiv?
„Während Streamingdienste, über die Videos heruntergeladen und konsumiert werden können, vor allem dem passiven Zeitvertreib dienen, sind soziale Netzwerke ein wichtiges Medium, um miteinander in Kontakt zu treten. Insbesondere Mädchen stellen sich darin gerne mit Fotos und Videos dar und kommunizieren über Chats. So finden sie Bestätigung und Orientierung. Jungen sind empfänglicher für Onlinespiele, es geht ihnen um Spiel, Spaß und Siegen. Je nach Schwerpunkt der Spiele werden unterschiedliche Bedürfnisse befriedigt. Bei Shooterspielen etwa können aggressive Impulse ausgelebt werden. Über das Anlegen von Avataren wird eine eigene Identität aufgebaut, die Macht und Vollkommenheit symbolisiert. Oder aber man verbündet sich in Gilden, das stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Onlinespiele sind so gestaltet, dass die Nutzer darüber die reale Welt leicht vergessen können. Sie üben eine starke Sogwirkung aus.“

Gibt es Gruppen, die davon stärker betroffen sind als andere?
„Es werden vor allem diejenigen in den Bann digitaler Angebote gezogen, die bereits verhaltensauffällig sind – die unter ADHS oder Angststörungen, Depressionen oder Phobien leiden. Betroffene können oftmals ihre Gefühle nicht gut regulieren und reagieren sehr empfindlich auf Stress. Wer unter Zweifeln und Selbstwertproblemen leidet, ist oft unsicher im Sozialkontakt und nimmt eine Außenseiterposition ein. Soziale Medien und Onlinespiele helfen dann, ein persönliches Dilemma – scheinbar – zu kompensieren. Gerade während der Coronazeit waren viele Kinder und Jugendliche in großer Not und auf sich zurückgeworfen. Das Internet bot die einzige Möglichkeit, um überhaupt Kontakte aufrechtzuhalten. Diejenigen mit einer vulnerablen Persönlichkeitsstruktur sind so in suchtartige Verhaltensmuster abgeglitten.“

Ein männlicher Teenager mit Kopfhörern auf sitzt am Computer und spielt, das Zimmer ist in buntes Licht gehüllt.
In den Bann digitaler Angebote werden vor allem die gezogen, die unter ADHS oder Angststörungen, Depressionen oder Phobien leiden.

Ab wann spricht man von Internet- bzw. Gamingsucht?
„Hier geht es weniger um die zeitliche Nutzungsdauer, als vielmehr um den Kontrollverlust. Betroffene räumen dem Digitalen den Vorrang gegenüber allen anderen Lebensinhalten und Alltagsaktivitäten ein – trotz negativer Konsequenzen: Das soziale Umfeld leidet, es kommt oft zu Konflikten mit der Familie, die Schulleistungen gehen nach unten. Wer ohnehin eine Tendenz zur Prokrastination, also zum Aufschieben hat, geht immer mehr verloren. Die Jugendlichen vernachlässigen alles, auch sich selbst: Körperhygiene, Bewegung, regelmäßige Malzeiten, Schlaf. Gerade bei der Gamingsucht ist der Tag-, Nachtrhythmus völlig verdreht. Nachts wird gespielt, morgens kommt man nicht aus dem Bett. Ein Teufelskreis entsteht.“

Wann ist eine therapeutische Behandlung erforderlich?
„Wenn Symptome wie Kontroll- und Interessensverlust, Verwahrlosung und Reizbarkeit vorherrschen, sollten Eltern dringend eine auf Mediensucht spezialisierte Beratungsstelle im Jugendhilfebereich aufsuchen. Dies löst natürlich nicht selten erst einmal Widerstände aus, denn die Süchtigen zeigen oft keine Krankheitseinsicht – obwohl sie selbst spüren, dass ihr Leben sehr einseitig geworden ist und sich die Probleme häufen. Hier ist es die Aufgabe von Therapeuten, den Realitätsverlust bewusst zu machen.“

Wie sieht das Behandlungskonzept am Deutschen Suchtzentrum aus?
„Wir behandeln 400 bis 500 Kinder und Jugendliche pro Jahr mit medienbezogenen Störungen. Unsere stationäre Behandlung zielt darauf ab, den Suchtkranken wieder eine Struktur zu vermitteln. Das fängt vormittags mit Unterricht in unserer Klinikschule an – viele haben zuvor oft monatelang keine Schule mehr besucht. Wir leiten darüber hinaus an, Freizeit wieder sinnvoll zu gestalten – mit Sport, Handwerk, Kunst und dem Erlernen eines Instrumentes. Da wir den PatientInnen ja das bislang wichtigste in ihrem Leben wegnehmen – ihr Suchtmittel – brauchen sie dafür einen Ersatz. Sie brauchen Erfolgserlebnisse. Sie lernen bei uns, ihren Tagesablauf wieder selbst zu organisieren. Es geht darum, ihre Persönlichkeit zu entwickeln – hin zu mehr Selbstwirksamkeit und sozialer Kompetenz. Wichtig ist auch, sie wieder an einen „normalen“ Gebrauch digitaler Medien heranzuführen – diese werden sie im Berufsleben ja nicht vollständig meiden können. Von Onlinespielen sollten sie jedoch die Finger lassen, diese sind ein starker Trigger, um rückfällig zu werden. Entscheidend ist auch, die Eltern in den Behandlungsprozess einzubeziehen – denn irgendwann kommen ihre Kinder ja wieder nach Hause.“

Ein Mädchen liegt im Dunkeln in ihrem Bett und starrt auf das Handy.
Wichtig ist es, Kinder und Jugendliche an einen normalen Gebrauch digitaler Medien heranzuführen.

Was können Eltern tun, damit es gar nicht erst zur Sucht kommt?
„Hier muss man früh ansetzen. Kinder, die alleine auf das Netz losgelassen werden, haben eine erhöhte Suchtgefährdung. Leider gibt nur etwa die Hälfte aller Eltern zeitliche Vorgaben in Sachen Mediennutzung. Viele kontrollieren auch nicht, welche Inhalte ihr Nachwuchs aufsucht. Eltern sind oft schlechte Rollenvorbilder, weil sie selbst stark auf Medien fokussiert sind. Wir raten daher allen, sich zu informieren, um die eigenen Kinder angemessen anleiten zu können. Das heißt: Grenzen setzen und hinschauen, mit was sie sich beschäftigen. Das ist ein sehr mühsamer Prozess, gerade wenn viele Gleichaltrige schon mit PCs und Smartphones ausgestattet sind. Die Limits sollten dem Alter angemessen sein. Wir haben hier zur Orientierung einen Regelkatalog entwickelt: Internetzugänge nicht unter acht Jahren, vor der 5. Klasse kein eigenes Smartphone, PC im Zimmer erst mit frühestens 12 Jahren. Auch die Familien- und Bildungspolitik ist hier gefragt, den Heranwachsenden Medienkompetenz beizubringen – etwa im Schulunterricht. Das Beste jedoch, was Eltern für ihre Kinder tun können, ist Zeit für sie zu haben und in der realen Welt für viele positive Erlebnisse zu sorgen.“

Checkliste: Das elterliche Vorbild

Eltern spielen eine wichtige Rolle als Vorbilder für ihre Kinder. Daher ist es wichtig, dass Mama und Papa ihr eigenes Mediennutzungsverhalten beobachten – und es gegebenenfalls verändern. Dabei kann es hilfreich sein, sich folgende Fragen zu stellen:

  • Welche Rolle spielen Smartphone, Computer und Co. in meinem Familienleben oder in meinem Alltag?
  • Wie häufig und zu welchen Zeiten nutze ich das Smartphone oder andere digitale Geräte im Beisein meiner Kinder?
  • Wissen meine Kinder, wofür ich digitale Medien in meiner Freizeit gebrauche?
  • Haben sich meine Kinder vielleicht sogar schon mal beschwert, weil ich häufig am Smartphone oder am Computer bin?
  • Unterbreche ich das gemeinsame Abendessen oder Gespräche mit meinen Familienangehörigen für ein Telefonat oder einen Blick aufs Smartphone?
  • Bin ich noch bis spät abends am Smartphone, dem Computer oder der Konsole aktiv?
  • Nehme ich mein Smartphone, mein Laptop oder mein Tablet mit ins Schlafzimmer oder nutzen ich diese Geräte sogar im Bett?
  • Habe ich Smartphone-freie Zeiten eingeführt und halte diese ein?
  • Habe ich mich schon mal mit meinen Kindern über die Risiken der Nutzung digitaler Medien ausgetauscht?
  • Überwiegt die Zeit, die ich oder meine Kinder in der Freizeit mit digitalen Medien verbringen, der gemeinsamen Familienzeit?

Noch mehr Informationen für Betroffene und Eltern gibt es bei www.mediensuchthilfe.info.

In unserer neuesten Folge des Podcasts „Im Blick“ spricht Johannes Büchs mit Professor Dr. Rainer Thomasius vertiefend über Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen. Hör‘ einfach mal rein!

Der Im Blick Gesundheitspodcast Folge 6: Gamingsucht bei Kindern und Jugendlichen

Der Internetkonsum von Kindern und Jugendlichen steigt – und mit ihm die Suchtgefahr. Wer ist davon besonders betroffen und wie kann vorgebeugt werden? Darüber spricht Johannes Büchs mit Prof. Dr. med. Rainer Thomasius. Er ist Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

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