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Frauenkörper ticken anders

Frauen unterschiedlichen Alters posieren gemeinsam vor braunem Hintergrund

Text: Corinna Wießler; Fotos: Adobe Stock/ArtemVarnitsin, Adobe Stock/Graphicroyalty, Adobe Stock/peopleimages.com, Adobe Stock/peopleimages.com

Was die Emanzipation der Frauen betrifft, hat sich in den vergangenen Jahren einiges zum Positiven verändert. Doch in einem wichtigen Bereich sind Frauen immer noch deutlich benachteiligt, und zwar bei der medizinischen Versorgung. Ob Tabletten oder Therapien – fast alles basiert auf Studien mit Männern. Bis zu 80 Prozent aller Krankheiten und Medikamente werden nur am „starken Geschlecht“ untersucht.

Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek kennt den Grund: Männer sind einfachere Versuchskandidaten als Frauen. Die Kardiologin und Internistin, die 2004 das Institut für Gendermedizin an der Charité Berlin gründete und die erste Professur für Frauenspezifische Gesundheitsforschung innehatte, erklärt, warum. Zum einen ist der Fett-, Muskel- und Wasseranteil im Männerkörper anders verteilt als im weiblichen Körper. Heilstoffe wirken bei ihnen anders. Zum anderen weicht die Feinbauweise ihrer Organe von der der Frauen ab. Nicht zuletzt machen sie es der Forschung leichter, weil sie keine Periode und ein daraus resultierendes Auf und Ab der Hormone haben. Daher ignoriert die Wissenschaft den Geschlechterunterschied nahezu. „Selbst Tierversuche werden bevorzugt an männlichen Mäusen vorgenommen“, weiß Regitz-Zagrosek.

Stärkeres Immunsystem bei Frauen

Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielen die Sexualhormone. Das weibliche Östrogen wirkt aktivierend auf das Immunsystem. Das männliche Sexualhormon Testosteron dagegen bremst die Immunabwehr eher. So führt der weibliche Hormonhaushalt in der Regel zu einem flexibleren und stärkeren Immunsystem. Das erklärt auch, warum Infektionskrankheiten wie die „Männergrippe“ tatsächlich mit stärkeren Symptomen einhergehen als es bei Frauen der Fall ist.

Doch das starke Abwehrsystem hat auch Nachteile: Frauen sind von Autoimmunkrankheiten wie der Schilddrüsenentzündung Hashimoto oder Rheuma öfter betroffen. Zudem treten je nach Lebensalter bedeutende Unterschiede auf: Schließlich macht der weibliche Körper mit der Schwangerschaft eine spezielle Phase durch, ebenso in den Wechseljahren, wenn die Fruchtbarkeit zu Ende geht.

Ein Arzt untersucht mit einem Ultraschallgerät die Schilddrüse einer Frau.
Frauen sind von Autoimmunkrankheiten öfter betroffen – dazu zählen die Schilddrüsenentzündung Hashimoto oder Rheuma.

Dosierung anpassen

Im medizinischen Alltag fehlt oft das Wissen um geschlechtsspezifische Unterschiede. Und so verschreiben Ärztinnen bzw. Ärzte Patientinnen dieselben Medikamente und Dosen wie den männlichen Kunden. Die körperlichen Unterschiede führen aber dazu, dass einige Substanzen und dieselben Mengen bei Frauen anders wirken als bei Männern, beispielsweise langsamer abgebaut werden. Eine 2013 erschienene Studie in den USA zum Schlafmittel Zolpidem hat gezeigt, dass Frauen wegen des Präparats auffallend viele Autounfälle am Morgen verursachten, nachdem sie es am Vorabend eingenommen hatten. Daraufhin bekamen sie das Mittel nur noch mit der halben Dosierung verordnet. Einige Schmerzmittel dagegen, etwa bei der Krebstherapie, richten sich auch gezielt an die Rezeptoren, also die Empfängermoleküle der Zellen, die an der Zelloberfläche sitzen. Viele dieser Rezeptoren reagieren bei Frauen anders als bei Männern: So können bestimmte Wirkstoffe schlechter an den männlichen Zellen andocken als an den weiblichen, weswegen Frauen oft eine geringere Dosis brauchen.

Eine Ärztin hält eine Medikamentenpackung und spricht dabei mit ihrer Patientin.
Manche Medikamente wirken bei Frauen anders als bei Männern – oft muss die Dosierung angepasst werden.

Wenn sich also Stoffwechsel oder Zellrezeptoren bei Frauen und Männern unterscheiden, Therapien dies aber nicht berücksichtigen, heißt das im schlimmsten Fall: Dieselbe Menge wirkt bei Frauen wie eine doppelte Dosis, und das geht mit erhöhten Risiken und Nebenwirkungen einher. Dabei unterscheiden sich die Symptome beider Geschlechter zum Teil immens. Bestes Beispiel: Herzinfarkt. „Frauen gehen anders damit um als Männer“, weiß Vera Regitz-Zagrosek. „Sie sind nicht konditioniert darauf, bei diffusen Signalen wie Rückenschmerz, Übelkeit, Kurzatmigkeit und Müdigkeit an einen Herzinfarkt zu denken.“ Zu verbreitet ist die Annahme, dass Schmerzen in der Brust und im Arm auf einen akuten Anfall hindeuten. „Deswegen nehmen sie ärztliche Hilfe oft zu spät in Anspruch und verlieren wertvolle Zeit – mit manchmal schlimmen Folgen.“

Symptome unterscheiden sich stark

Die Medizinerin befürwortet, dass auch Männer in den Fokus der Gendermedizin rücken. Schließlich will diese für mehr Gerechtigkeit sorgen und Leben retten. Dabei berücksichtigt die geschlechtersensible Medizin, so ein anderer Begriff dafür, nicht nur biologische Unterschiede, sondern auch sozialpsychologische – also das Verhalten von Menschen in ihrem sozialen Kontext. Denn bedingt durch unterschiedliche Symptome und gesellschaftliche Normen fallen auch Männer bei bestimmten Erkrankungen durchs Raster. Die Ärztin kennt ein klassisches Beispiel: „Depressionen gelten als ‚typische‘ Frauenleiden. Diese Annahme verstellt den Blick auf die Krankheit bei Männern.“ Mit fatalen Folgen: Wie Forschende vermuten, könnte die Dunkelziffer an depressiven Männern höher sein – da sie ihre Beschwerden verheimlichen. Dafür spricht auch, dass die Selbstmordrate bei Männern mindestens dreimal so hoch ist wie die der Frauen. Das Krebsrisiko ist bei Männern ebenfalls erhöht, weil sie Vorsorgeuntersuchungen seltener wahrnehmen. Oft suchen Betroffene erst bei Beschwerden eine Praxis auf oder weil die Partnerin auf einen Besuch drängt. Zu diesem Verhalten trägt die unterschiedliche Sozialisierung bei. Mädchen sollen fürsorglich und rücksichtsvoll sein. Über Gefühle zu reden, fällt ihnen daher leichter. Jungen dagegen werden eher dazu ermutigt, feminine Verhaltensweisen zu vermeiden und Gefühle runterzuschlucken.

Ein Mann und eine Frau halten Hände.
Bedingt durch unterschiedliche Symptome und gesellschaftliche Normen gibt es immer noch typische „Frauen-“ und „Männerkrankheiten“.

Seit die Gendermedizin in den 1990ern aufkam, geht es schleppend, aber in Mini-Schritten voran. Immer mehr Lehrbücher werden veröffentlicht, und es gibt zunehmend Fachkongresse. Laut einer Analyse des Gesundheitsministeriums bieten bereits ein Drittel aller befragten Universitäten mit Medizinstudiengängen regelmäßig Gender-Vorlesungen an. Spätestens ab 2025 soll das Wissen um die biologischen Unterschiede in den Lehrplänen jeder deutschen medizinischen Fakultät verankert sein. Ganz im Sinne der Gendermedizin-Pionierin: „Wir behandeln im Endeffekt alle besser, wenn wir die Eigenheiten beider Geschlechter bewusster beachten.“

Expertentipps

  • Das Hören auf den eigenen Körper und die Kenntnis über sein Funktionieren sind wichtig, um typisch weibliche Krankheitssignale erkennen und Ärztin oder Arzt darauf hinweisen zu können.
  • Die Medikation sollte man nicht in die eigene Hand nehmen, sondern immer erst Rücksprache mit dem ärztlichen Fachpersonal halten.
  • Der weibliche Alltag, der in vielen Fällen geprägt ist von Selbstüberforderung, Mehrfachbelastung und Aufopferung für andere, begünstigt Erkrankungen. Hier können spezifische Kurse helfen vorzubeugen.
  • Frauen sollten in der Arztpraxis oder Apotheke das Thema Gendermedizin ansprechen und sich bei Arzneien nach möglichen Nebenwirkungen erkundigen.