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„Wir brauchen den Mut und den Willen zu wirklichen strukturellen Veränderungen“

Zwei Männer geben sich einen Fauststoß, Im Hintergrund ist verschwommen Natur zu erkennen.

30.08.2023

Fotos: Adobe Stock/Worawut, Franziska Kraufmann (3x)

Zum Jahresbeginn 2023 mussten viele Krankenkassen ihre Beiträge erhöhen. Nun hat Gesundheitsminister Lauterbach angekündigt, dass die Beiträge 2024 erneut steigen werden. Da stellt sich die Frage: Wie solide und nachhaltig ist die Finanzierung der 96 gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland? Wir sprechen dazu mit Bosch BKK-Vorständin Gertrud Prinzing.

Im Jahr 2024 sollen die Krankenkassenbeiträge laut des Gesundheitsministers erneut steigen – warum?
Seit vielen Jahren wurden immer wieder neue Leistungen und andere kostenintensive Veränderungen eingeführt – oftmals aus gutem Grund, wie zum Beispiel höhere Gehälter für das Pflegepersonal und weitere Verbesserungen im Pflegebereich. Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben geht allerdings immer weiter auseinander. Es wurde nicht darauf geachtet, wie die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung insgesamt nachhaltig finanzierbar ist. So etwas geht eine Weile gut, insbesondere wenn die Wirtschaft boomt und damit das Steueraufkommen und die Beitragseinnahmen hoch sind. Spätestens seit 2020 wird die Finanzierungslücke in der gesetzlichen Krankenversicherung durch kurzfristige Maßnahmen gestopft, aber die notwendigen strukturellen Maßnahmen nicht angegangen. Auch die im Koalitionsvertrag vereinbarte auskömmlichen Finanzierung der Versorgung der Bürgergeld-Empfänger wird nicht umgesetzt. Die gesetzliche Krankenversicherung organisiert und bezahlt im Auftrag des Staates die Versorgung der Bürgergeld-Empfänger – aber die Beträge, die der Bund dafür zahlt, decken die Kosten nicht annähernd: Es fehlen rund 10 Milliarden Euro. Letztlich subventionieren die gesetzlichen Kassen so den Bundeshaushalt jährlich mit diesem Betrag. Ein weiteres Thema ist die vereinbarte und berechtigte Senkung der Mehrwertsteuer bei Arzneimitteln von 19 auf 7 Prozent. Das wird nicht umgesetzt, doch damit würden die Kassen jährlich um rund 6 Milliarden Euro entlastet.

Vorständin Gertrud Prinzing, lächelnd, in blassgelbem Blazer
Gertrud Prinzing, Vorständin der Bosch BKK, sagt: „Wir haben genügend Geld im System, es aber nicht gut eingesetzt.“

Wie groß ist denn das Loch in den Kassen?
Wichtig ist vorneweg: Es sind nicht die Krankenkassen, die ein Finanzierungsproblem haben, sondern das System der Versorgungsstrukturen und Vergütungssysteme in der gesetzlichen Krankenversicherung führt zu Fehlanreizen, zu Über-/Fehl und Unterversorgung und ist deshalb defizitär. Derzeit wird von einer Finanzierungslücke von vier bis sieben Milliarden Euro ausgegangen. Allerdings kann sich die Einschätzung noch ändern. Die Entwicklung der Beitragseinnahmen ist abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung, weil diese die Beschäftigungsentwicklung triggert. Noch ist die wirtschaftliche Entwicklung gut. Es gibt aber viele Stimmen, die von einer Eintrübung ausgehen. Gibt es Sondereffekte bei den Leistungsausgaben? In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Krankenhausbehandlungen verschoben, zunächst wegen Corona, dann wegen Personalmangels. Wir stark werden Nachholeffekte 2024 sein? Im Oktober kann man dies alles besser abschätzen.

Sinnvolle Maßnahmen wie die Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel und eine ausgabendeckende Finanzierung der Versorgung von Bürgergeld-Empfängern liegen auf dem Tisch. Sie waren auch im Koalitionsvertrag vereinbart. Jetzt ist die Politik am Zug, diese endlich umzusetzen.

Udo Lutz, alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrats (Versichertenvertretung)

Erst Ende 2022 ist das sogenannte „GKV-Finanzstabilisierungsgesetz“ in Kraft getreten. Eine dauerhafte, nachhaltige Stabilisierung der Finanzen scheint aber nicht zu gelingen. Woran liegt das?
Unsere Versorgungsstrukturen und Vergütungssysteme im Gesundheitssystem haben sich über viele Jahrzehnte entwickelt, die Strukturen haben sich verfestig und die jeweiligen Interessenvertretungen sind stark. Wir haben einen grundlegenden Reformbedarf und treffen auf reformresistente Strukturen, jeder verteidigt sein Terrain. Dazu kommen noch die politischen Dimensionen von Bund, Ländern und Kommunen mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten und divergierenden Interessen. Es gibt vielfältige konkrete Ansätze für eine nachhaltige Finanzierung. Manche erfordern Steuergelder bzw. eine entsprechende Priorisierung der Verwendung des Steueraufkommens – wie die bereits genannte auskömmliche Finanzierung der Bürgergeld-Empfänger oder das Absenken der Mehrwertsteuer bei Medikamenten. Andere erfordern eine Reform der Versorgungsstrukturen und Vergütungssysteme und greifen damit in das Bestehende ein. Hier würde ein überparteilicher Konsens oder besser gesagt zunächst der Wille zu einem überparteilichen Konsens viel bewirken. Diesen Willen kann ich leider derzeit bei keinem der Beteiligten erkennen.

Lieferschwierigkeiten bei Arzneimitteln, Fachkräftemangel in der Pflege, Probleme bei der Versorgung von Kindern – an allen Ecken scheint es zu haken. Ist insgesamt einfach zu wenig Geld für das Gesundheitssystem da?
Wir haben genügend Geld im System, es aber nicht gut eingesetzt. Wir haben kein Einnahmenproblem, sondern die Einnahmen werden fehlgesteuert. Im internationalen Vergleich haben wir mit die höchsten Ausgaben im Gesundheitswesen, aber „nur“ durchschnittliche Ergebnisse. Durch die starren Grenzen zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor erleben wir immer wieder Fehlversorgung in Form von Über- oder Unterversorgung. Infolge der völlig unzureichenden Digitalisierung gibt es Doppeluntersuchungen, weil Untersuchungsergebnisse nicht systemübergreifend zuverlässig verfügbar sind. In keinem anderen europäischen Land gibt es so viele Hüft- und Kniegelenksoperationen wie in Deutschland. In keinem anderen europäischen Land werden so viele Behandlungen stationär durchgeführt statt ambulant. Das sind nur einige Beispiele.

Könnten die Kassen nicht mehr Rücklagen bilden, um steigende Ausgaben besser abfedern zu können?
Wir haben über viele Jahre gewisse Rücklagen gebildet, um unerwartete Schwankungen auffangen zu können, ohne dass dies via Beitragssatzerhöhung zu Lasten unserer Versicherten geht. Leider wurden wir für dieses Vorgehen massiv bestraft. Im Jahr 2021 und – trotz anderslautender Aussage des damaligen Gesundheitsministers Spahn – erneut im Jahr 2023 hat die Politik die Löcher in der gesetzlichen Krankenversicherung unter anderem dadurch kurzfristig gestopft, dass sie auf die Rücklagen derjenigen Krankenkassen zugegriffen hat, die etwas mehr als die gesetzliche Mindestrücklage gebildet hatten. Die Bosch BKK musste insgesamt 53 Millionen Euro in den Gesundheitsfonds abführen. Zwischenzeitlich ist der gesetzliche Rahmen für die Rücklagen so eng gesteckt, dass wir kaum Bewegungsspielraum haben. Wir müssen mindestens 0,2 Monatsausgaben an Rücklagen haben, sollen aber nicht mehr als 0,5 Monatsausgaben zurücklegen, da wir diese andernfalls abgeben müssen. Das ist vergleichbar, wenn Sie im privaten Bereich zumindest 20 Prozent, aber nicht mehr als 50 Prozent Ihrer monatlichen Ausgaben als Rücklage haben dürften.

Wie sieht es speziell mit der finanziellen Situation der Bosch BKK aus?
Die Bosch BKK ist solide finanziert, aber unser Gestaltungsspielraum wird immer enger. Und es wird immer schwieriger, vorausschauend zu planen, weil die Finanzierungssystematik in der gesetzlichen Krankenversicherung immer wieder angepasst wird und die Politik die Rücklagen der Krankenkassen als Allgemeingut betrachtet.

Vorausschauendes Wirtschaften und längerfristige Innovationen werden von der Politik leider nicht belohnt. Ein Beispiel ist das Einziehen von Rücklagen aus Beitragsgeldern. Unsere Rücklagen haben wir durch gutes Wirtschaften und eine vorausschauende Beitragspolitik im Interesse der Bosch BKK-Versicherten aufgebaut, um wirtschaftliche Schwankungen auffangen, neue Leistungen entwickeln und einen günstigen Beitragssatz finanzieren zu können. Leider werden Kassen, die so verantwortungsvoll handeln, bestraft.

Dirk Jargstorff, alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrats (Arbeitgebervertretung)

Was erwarten Sie jetzt von der Politik?
Die Politik muss die starren Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung auflösen und eine sektorenübergreifende integrative Versorgung mit Kraft voranbringen. Nur so können wir Über- und Fehlversorgung vermeiden, etwa durch doppelte Untersuchungen oder unnötige Operationen. Wir müssen auch etwas gegen Unterversorgung tun, die sich zum Beispiel in einem Mangel an Kinderärzten oder auch Haus- und Fachärzten in ländlichen Regionen zeigt. Die Politik muss außerdem die Ambulantisierung voranbringen. Das heißt, dass mehr Behandlungen ambulant gemacht werden statt stationär im Krankenhaus. Und schließlich muss sie die Anfänge der Krankenhausreform konsequent zu Ende bringen – im Interesse einer qualitativ hochwertigen und wirtschaftlichen Krankenhausversorgung. Sonst besteht die Gefahr einer „kalten“, unkontrollierten Strukturveränderung im Krankenhaussektor.

Und was können Kassen, Ärzte oder Krankenhäuser selbst beitragen?
Wir brauchen den Mut und den Willen zu wirklichen strukturellen Veränderungen, und da sind alle gefordert. Mit einem Gegeneinander, bei dem jeder nur auf seine Interessen schaut, wird es nicht gelingen, die Situation zu verbessern. Stattdessen müssen wir gemeinsam nach Lösungen suchen, die die Patientenversorgung verbessern und mit denen alle Seiten zufrieden sind.

Vorständin Gertrud Prinzing steht an ein Geländer gelehnt, Blick nach vorne, lächelnd, in blassgelbem Blazer
Um die Patientenversorgung zu verbessern, müssen Kassen, Ärzte und Krankenhäuser zusammenarbeiten, da ist sich Gertrud Prinzing sicher.

Können Sie das an einem konkreten Beispiel erklären?
Einige der Probleme des Gesundheitssystems, die ich angesprochen habe, gehen wir konkret an. Ich mache ein Beispiel: Gemeinsam mit Ärzteverbänden haben wir unsere Haus- und Facharztprogramme entwickelt – und zwar auf Augenhöhe und partnerschaftlich. Gemeinsam haben wir uns die Frage gestellt, wie wir schnellere Arzttermine erreichen können, die Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten verbessern und den Ärzten mehr Zeit für das Gespräch mit dem Patienten verschaffen. So haben wir Versorgungsprogramme auf die Beine gestellt, mit denen beide Seiten zufrieden sind und die Versorgung der Patienten verbessern: Wenn wir es schaffen, dass Patienten nicht wiederholt ins Krankenhaus müssen, weil sie zu Hause besser betreut sind, ist das weniger belastend für die Betroffenen und spart zugleich vermeidbare Kosten. Auch wenn Doppeluntersuchungen vermieden werden, weil die Zusammenarbeit der Haus- und Fachärzte klar geregelt ist, sehen wir diesen Effekt. Insofern ist es eine Win-win-win-Situation für Ärzte, uns als Kasse und den Patienten. Im Übrigen leisten wir damit auch unseren Beitrag gegen den Ärztemangel, indem wir die Ärzte in unseren Programmen besser vergüten und so den Beruf attraktiv halten.

Können Sie ein weiteres Beispiel aus der Praxis nennen?
Unsere Patientenbegleitung. Die Patientenbegleiterinnen und Patientenbegleiter stehen Versicherten auf Wunsch zur Seite, zum Beispiel wenn sie einen Schlaganfall, einen Herzinfarkt oder eine Pflegebedürftigkeit haben. Dabei helfen sie, den Wechsel vom Krankenhaus in die ärztliche Behandlung und die häusliche Versorgung reibungslos zu gestalten. Damit tragen sie dazu bei, die Sektorengrenzen zwischen Haus-, Fachärzten und Kliniken zu überwinden. Versicherte durchs Dickicht des Gesundheitssystems zu lotsen, kann auch helfen, Doppeluntersuchungen oder Leidenswege auf der Suche nach dem richtigen Behandler zu vermeiden. Im Kleinen leben wir so vor, was wir im gesamten Gesundheitssystem brauchen.

Frau Prinzing, vielen Dank für das Gespräch.