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Wie sich Zeit anfühlt

Schnecke auf Asphalt

Autorin: Stephanie Arns Fotos: Dusan Bartolovic/iStock, SZ Photo Jens Schicke, SZ Photo Martin Hangen

Corona hat unser gewohntes Tempo heruntergefahren. Für manche haben sich zwar die Aufgaben vervielfacht – viele andere dagegen haben plötzlich Zeit im Überfluss. Was macht eine derartige Entschleunigung mit uns?

Wochenlang war das Leben auf die eigenen vier Wände reduziert. Die meisten Tage in der häuslichen Isolation kamen uns ziemlich lang vor und zogen sich zäh wie Kaugummi dahin. In der Rückschau allerdings scheint die Zeit verflogen zu sein und man fragt sich erstaunt, was man eigentlich ge­macht hat. Was sich widersprüchlich anhört, hat weniger mit dem Ausnah­mezustand der Corona-Pandemie, sondern mit einem Phänomen zu tun, das Experten „Zeitparadox“ nennen. Jeder kennt es: Erleben wir neue und aufregende Dinge, vergeht die Zeit schnell. Im Nachhinein, in der Erinne­rung, kommt einem dieser ereignisreiche Zeitraum jedoch lang vor – weil man so viel erlebt hat. Dies erklärt auch, warum es uns mit fortge­schrittenem Lebensalter und den oft gleichen Alltagsroutinen so vorkommt, als vergingen die Jahre immer schneller – im Gegensatz zu unserer Kindheit und Jugend, in denen wir ständig neue Erfahrungen machten. Woran liegt das? Wir Menschen besitzen zwar eine gut getaktete innere Uhr, die unseren Tag- und Nachtrhythmus steuert. Doch wie wir Zeit erleben, ist höchst subjektiv: Mal rast sie, mal dehnt sie sich schier unendlich. Unser Zeitempfinden hängt von unserer Wahrnehmung ab – davon, welche Perspektive wir einnehmen und wie viel Aufmerksamkeit wir einer Situation schenken.

Frau liegt auf einer Wiese und liest ein Buch
Die Verlangsamung durch Corona kann auch eine Chance sein, endlich wieder einmal Zeit für oft vernachlässigte Dinge zu haben. Wann haben Sie zuletzt ganz entspannt und ausgiebig ein Buch gelesen?

Corona hat – gefühlt – die Zeit angehalten. Vielen, zumindest denjenigen, die nicht plötzlich doppelt so viel arbeiten und zuhause Kinder betreuen mussten, erging es wie beim Warten auf den Zug. Wenn man auf den Zeiger der Bahnhofsuhr schaut und die Sekunden einfach nicht vergehen wollen. Doch ist diese Verlangsamung unseres Lebens nicht eine einmalige Chance, endlich Zeit für sich zu haben, die Füße hochzulegen und nichts zu tun? Gar nicht so einfach! Das Herunterfahren unseres eng getakteten Betriebsam­keitsmodus kommt einer Vollbremsung gleich. Viele Zwangsentschleunigte versuchen, ihren Tatendrang daher mit Projekten in Haus und Hof zu kompensieren: den Keller entrümpeln, die Fenster putzen, den Garten umgraben. Nur keine Langeweile aufkommen lassen! Wir sind es gewohnt, die Dinge durch Handeln zu kontrollieren und zu optimieren. Stillstand verunsichert uns. Langeweile ist Stillstand. Ein emotionaler Zustand, der entsteht, wenn wir eigentlich etwas für uns Wichtiges tun möchten, es aber nicht können: die Großeltern besuchen, Freunde treffen, ins Kino gehen. Das kann unzufrieden und nervös machen und langfristig ganz schön aufs Gemüt schlagen.

Psychologen raten jedoch, das vermeintlich negative Gefühl der Langeweile nicht zu bekämpfen, sondern es auszuhalten. Denn gerade zeitlicher Leerlauf ist so wichtig für unser körperliches und psychisches Wohl­befinden. Der bekannte Soziologe und Zeitforscher Hartmut Rosa plädiert seit Jahren dafür, unser Leben zu entschleunigen und mal aus dem Hamsterrad auszusteigen, das sich immer schneller dreht: um innezuhalten und nachzudenken, um Wesentliches von Unwesentlichen zu unterscheiden, um wieder zu sich selbst zu finden. Ohne sich dabei ständig ablenken zu lassen. Eine wichtige Fähigkeit, die man auch bei Meditations- und Achtsamkeitsübungen erlernt. Wenn ich meinen Körper bewusst wahr­nehme, mich beispielsweise auf meinen Atem konzentriere, vergeht die Zeit gefühlt langsamer, ich entspanne. Warum die Zwangspause zu Hause also nicht nutzen, um sich in Achtsamkeit zu üben? Mal aus dem Fenster schauen und die Aufmerksamkeit für eine längere Zeit auf die Umgebung richten: auf den blühenden Baum, auf das Vogelgezwitscher. Aus Langeweile kann Muße und Kreativität erwachsen. Das bringt uns auf neue Gedanken und Ideen jenseits unserer sonstigen To-do-Listen – ohne Zwang zu Effizienz und Selbstoptimierung.

Malen im Grünen
Viele Zwangsentschleunigte versuchen, ihren Tatendrang mit Projekten zu kompensieren. Das muss nicht zwangsläufig schlecht sein: Aus Langeweile können Muße und Kreativität erwachsen.

Natürlich sollten sich die zweckfreie Zeit und die Aufgaben des Tages im Gleichgewicht halten. Gerade wenn sich das gesamte Leben zuhause abspielt, sind Routinen und ein klar strukturierter Tagesablauf von Nöten. Freizeit, Arbeitszeit und Mahlzeiten sollten voneinander abgegrenzt sein und nicht fließend ineinander übergehen. Das erfordert ein gewisses Maß an Selbstdisziplin: nicht länger schlafen als sonst, sich bei der Arbeit nicht ablenken lassen – vom Handy, vom Partner oder vom Kühlschrank in der Küche. Damit unsere innere Uhr nicht aus dem Takt gerät, ist es zudem wichtig, sich zwischendurch regelmäßig an der frischen Luft zu bewegen. Tageslicht ist ein wichtiger Taktgeber für unseren Biorhythmus. Da der gewohnte Weg zur Arbeit wegfällt, sollten wir morgens draußen erst mal eine Dosis Tageslicht tanken, das kurbelt die Wachmacherhormone an. Abends noch am Computer zu arbeiten, ist hingegen eine ganz schlechte Idee – und führt nicht selten zu Schlafproblemen. Und wenn das Leben irgendwann wieder an Fahrt aufnimmt und wir zu unserer gewohnten Normalität zurückkehren, sollten wir aus dem Corona-Shutdown etwas Wichtiges mitnehmen: ab und zu auch mal wieder das Tempo drosseln, sich Zeit, Ruhe und Muße gönnen.

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